“Viele unserer Mitarbeiter fühlen sich durch die Ansage, sie sollen jetzt agiler arbeiten, unter Druck gesetzt. Dort wo vorher Langstreckenläufer gesessen haben, hetzen auf einmal Sprinter durch unsere Büros.” Ein weit verbreiteter und gleichzeitig verständlicher Irrtum hat sich hier in den Köpfen festgesetzt: Agiler zu arbeiten heißt, schneller zu arbeiten. Schließlich lautet ein Buchtitel eines der Scrum Urväter, Jeff Sutherland, auch “Scrum. Doing twice the work in half the time.”
Don’t manage the worker, manage the work!
Doch es ging niemals darum schneller zu arbeiten. Der Großteil der Agilisten ist sich darüber einig, dass mittel- bis langfristig wenig dafür getan werden kann, die Arbeitsgeschwindigkeit einzelner Menschen zu erhöhen. Kurzfristig mag es Maßnahmen mit motivierender Wirkung geben, die auch die Arbeitsgeschwindigkeit erhöhen. Auch mag es bei der Wahl der Arbeitsmaterialien Hebel geben, die die Effizienz zu einem gewissen Grad steigern. In beiden Fällen ist jedoch auf lange Sicht kein Erfolg im Sinne einer Vervierfachung der Arbeitsleistung zu erwarten.
Deutlich nachhaltiger ist hier der Ansatz, einen Blick auf die Wartezeiten zu erledigender Arbeitspakete zu werfen und der anschließende Versuch, diese zu verkürzen. Wenn ich heute mit der Bearbeitung einer Aufgabe beginne, und diese in 7 Tagen fertiggestellt ist, ist die Arbeitszeit auf den ersten Blick 7 Tage. Auf den zweiten Blick beträgt sie jedoch nur ein paar Stunden, allerdings lag das Arbeitspaket etliche Tage herum und wurde von notwendigen Schnittstellen leider zu spät oder gar nicht angefasst. Es muss jetzt also darum gehen, die Kommunikation an und zu den Schnittstellen so zu gestalten, dass sich die Wartezeit und somit auch die Durchlaufzeit verkürzt. Bei der “Touch Time” hingegen wird kaum noch Potential zu heben sein.
Das Verhältnis von aktiver Arbeitszeit zur Durchlaufzeit heißt im Kanban “Flow Efficiency.” Eine Flow Efficiency von 15%, die nach den Angaben einiger Autoren und Coaches als normal bezeichnet werden könnte, bedeutet demnach, dass ein Arbeitspaket 85% der Zeit herumliegt und nur 15% der Zeit aktiv bearbeitet wird. Reife Teams erreichen eine Flow Efficiency von 40% und mehr. Wer sich für das Thema interessiert, kann auf den Seiten der Kanban University durch die Artikel stöbern.
Arbeit versus Beschäftigung
Fängt man an, sich mit dem Thema Wartezeiten auseinanderzusetzen, kommt man irgendwann zwangsläufig an den Punkt, sich zu fragen: was machen denn die Menschen die ganze Zeit, wenn alle 100% ausgelastet sind und wichtige Dinge dennoch 85% der Zeit darauf warten, erledigt zu werden? Hier kommt eine weitere wichtige Unterscheidung ins Spiel: die zwischen Arbeit und Beschäftigung. Während Arbeit eine wertschöpfende Tätigkeit beschreibt, ist Beschäftigung überspitzt gesagt lediglich die Verrichtung von Aufgaben unter der Annahme, dass eine Auslastung von weniger als 100% wirtschaftlich schädlich sein muss.
Das Erstellen eines 100 seitigen Power Point Decks schafft keinen Wert, ist also Beschäftigung. Die eigentliche Arbeit wird in der Erhebung und Umsetzung der, in diesem Deck enthaltenen, Informationen geleistet. Es ist völlig egal, dass mittlerweile sogar Harvard Studien beweisen, dass PowerPoint Präsentation Geld- und Zeitfresser sind — auf diese Art der Beschäftigung hat man sich nun Mal geeinigt und ganze Industrien drumherum etabliert. Für eine detailliertere Auseinandersetzung empfehle gerne die Podcast Folge “Beratertheater” von Lars Vollmer.
Agil sein heißt wirksam sein
Zurück zur Ausgangsfrage: Heisst agil arbeiten nun schneller arbeiten? Im Sinne der eben angesprochenen Unterscheidung von Arbeit und Beschäftigung bedeutet schnelleres Arbeiten auch schnelleres Liefern von Wert. Damit ist jedoch, wie bereits eingangs erwähnt, nicht die Arbeitsgeschwindigkeit einzelner Personen gemeint, sondern die Verbesserung der Kommunikation an notwendigen Schnittstellen um die Lieferung von Wert für eine Organisation zu ermöglichen. Das wiederum bedeutet, die Zeit der reinen Beschäftigung zu reduzieren und parallel die Zeit tatsächlicher Arbeit zu erhöhen. Paradoxer Weise entsteht dadurch eine Situation in der die Menschen nicht komplett ausgelastet sind. In dieser Zeit haben sie die Gelegenheit, durchzuatmen, kreativ zu sein oder einfach mal den eigenen Interessen nachzugehen. Um dann wieder im Sinne der Wertschöpfung wirksam sein zu können. Wahnsinn.