In der komplexen bis chaotischen VUCA-Welt, ist es ratsam sich nicht auf die Entscheidung aus einer Perspektive zu verlassen, sondern diese in cross-funktionalen Expertenteams zu fällen. Arbeiten diese selbstorganisiert, stehen sie vor allem zu Beginn ihrer Zusammenarbeit vor der Frage, wie sie Entscheidungen treffen. Zunächst ist es für viele ungewohnt innerhalb der gesetzten Commitments (z.B. von User Stories innerhalb eines Sprints) frei zu agieren und bestimmen zu können. Denn nun heißt es untereinander und miteinander entscheiden, wie man ans Ziel kommt.
Wer schnelle Entscheidungen eines Chefs gewohnt ist, dem mag der Prozess einer gemeinsamen Entscheidungsfindung zunächst zäh und vor allem unnötig vorkommen. Doch auch in Teams können Entscheidungen durch geregelte Abstimmungsverfahren effizient getroffen werden. Ausschlaggebend dafür ist, für welches man sich entscheidet. Wir stellen in unserer Blogserie “Partizipativ Entscheiden” die verschiedenen Möglichkeiten vor, um einen Überblick anzubieten und die passende Wahl treffen zu können.
Nachdem wir bereits vor einigen Wochen den Mehrheitsbeschluss unter die Lupe genommen haben, möchten wir uns heute im Teil 2 einer eher unbekannten Methode nähern: Dem Systemischen Konsensieren.
Was soll dieser lange Name bedeuten?
Systemisch bezieht sich darauf, nicht nur eine individuelle Entscheidung zu treffen, sondern diese bewusst im Zusammenhang mit anderen Faktoren zu betrachten. Es geht vor allem um die Qualität und Tragfähigkeit einer Entscheidung für das ganze Team oder die Organisation. Konsensieren ‑das ist kein Geheimnis– steht dafür, einem Konsens möglichst nahe zu kommen bzw. abzubilden zu bis zu welchem Grad man sich diesem erreicht.
Entwickelt wurde das Verfahren von zwei Österreichern namens Siegfried Schrotta und Erich Visotschnig, die sich als Systemanalytiker in einem internationalen Konzern in den 80er Jahren kennenlernten und nach Alternativen für hierarchische Entscheidungsstrukturen suchten.
Was macht die Methode aus?
Dem Gesetz des Stromkreises folgend, ist es auch beim Systemischen Konsensieren das Ziel Widerstand zu minimieren, damit mehr Energie fließt. Die meisten Entscheidungsmethoden messen Zustimmung und wollen diese maximieren. Beim Systemischen Konsensieren, welches sich auch für komplexe Entscheidungen eignet, rückt die Option in dem Mittelpunkt, die den geringsten Widerstand bzw. die höchste Akzeptanz in der Gruppe erzielt. Dabei werden hindernde Argumente identifiziert und bei der Lösungsfindung berücksichtigt. Damit soll auch Umsetzungswahrscheinlichkeit erhöht und spätere Reibungsverluste minimiert werden. Kurzgefasst: Es geht darum Bedürfnisse ernst zu nehmen und idealerweise daraus neue Möglichkeiten zu erschließen.
Gemäß eines relativen Mehrheitsentscheids würde die Variante “Tasks dürfen zu zweit bearbeitet werden” den meisten Zuspruch erhalten.
Beim Systemischen Konsensieren wird jede Option von jedem und jeder Stimmberechtigten einzeln bewertet: Das heißt jede/r drückt zu jeder Variante den Grad der Zustimmung oder Ablehnung aus. Die Wertung wird in der Regel durch ganze Zahlwerte auf der Skala von 0 bis 10 vorgenommen:
- Dabei drückt 0 keinen Widerstand (Na das ist ja vollkommen eindeutig und klar) und
- 10 die maximale Resistenz (Auf keinen Fall und dafür habe ich viele gute Gründe) aus
- Mit einer 5 oder 6 gebe ich zu verstehen, dass ich der Option eher neutral gegenüberstehe.
Wenn alle Informationen vorliegen, die es für die Einschätzung braucht, dauert dieser Bewertungsschritt meist weniger als fünf Minuten. Im benannten Abstimmungsbeispiel favorisiert die abstimmende Person A sichtlich „Tasks nur alleine bearbeiten” mit einem Widerstand von 0, Option 2 wäre für sie mit einem mittleren Wert okay, während sie die dritte Variante für leicht kritisch hält.
Wie exemplarisch an Hand der nachfolgenden Tabelle dargestellt, wird das Meinungsbild aus allen Einzelergebnissen zusammengeführt. Zusätzlich kann neben den Zahlenwerten durch Farbgebung ein optischer Überblick vermittelt werden. Zustimmung wird dann mit Grünfarben gekennzeichnet, während mittlere Werte Gelbtönen und Widerstände Rotnuancen zugeordnet werden. Als weitere Hilfestellung kann das Mittel aus der Summe und aus dieser Widerstands– und Akzeptanzquoten gebildet werden. Werden beiden Varianten angewandt, steigt die Wahrscheinlichkeit Kopf- und Bauchentscheidungsmenschen “mitzunehmen”.
Wie wir sehen können, liegt der Akzeptanzgrad der verschiedenen Varianten, in der letzten Tabellenspalte, nah beieinander. Die Option “Arbeit mit mehreren Personen an einem Task möglich” erzielt mit einem Akzeptanzgrad von 65% jedoch den geringsten Gesamtwiderstand-es scheint eindeutig genug ausgegangen zu sein! Und die Person, die sich vorher der Stimme enthalten hat, hat sich offenbar freiwillig entschieden doch ihre Einschätzung hinzuzufügen.
Bevor alle wieder auseinander gehen, passiert jedoch noch etwas Wichtiges: Die sichtbaren Einzelwiderstände, zunächst der präferierten Variante, werden thematisiert. Meist wenn sie den Wert 8 oder mehr haben. Die Personen, die von der Gesamtmeinung abweichen, in diesem Fall Person A und B sollen sich von der Gruppe ernst genommen fühlen, wenn sie ihre Argumente darzulegen. Das Hören von Gegenargumenten bei hohen Abweichungen fördert den Perspektivwechsel, ein vertrauensvolles Miteinander und hilft der Gruppe zu erkennen, ob sie relevante Informationen bei ihrer Entscheidungsfindung ggf. nicht einbezogen hat. Dabei können unterschiedliche Dinge entstehen:
- Es entsteht ein Klärungsprozess in der Gruppe, welcher zu einer präziseren Formulierung der Entscheidung oder Festlegung von Anwendungsfällen/ Ausnahmen führt, die das gemeinsame Verständnis fördern.
- Es entsteht ein Meinungsbildungsprozess in der Gruppe, der zu einer oder mehreren neuen Lösungsvarianten führt.
- Es entsteht ein Meinungsbildungsprozess in der Gruppe, inklusive der Skeptiker der Variante mit der höchsten Akzeptanzquote, der eine Neubewertung sinnvoll erscheinen lässt.
- Die Entscheidung wird vertagt.
- Gegenargumente werden gehört und die Entscheidung dennoch beibehalten- mit dem Wissen, dass das Risiko besteht und allen bekannt ist.
- Alternativ kann einem Delegierten die finale Entscheidung aus der Gruppe heraus vertraut und übereignet werden.
Warum genau lohnt es sich das jetzt nochmal auszuprobieren?
Das systemische Konsensieren gibt eine einfache Struktur vor, um ein differenziertes Meinungsbild in kurzer Zeit abzubilden. Die Methode intendiert Koalitionen zur Stimmabgabe zu vermeiden und stattdessen Argumente in den Mittelpunkt zu rücken. Dadurch, dass zu Beginn alle Vorschläge und Optionen gelistet werden und diese dann separat von jedem und jeder Teilnehmenden bewertet werden, entsteht ein gleiches Gewicht für jede/n in der Gruppe. Weiterhin beschäftigen sich dadurch alle Abstimmenden mit Vor- und Nachteilen der jeweiligen Entscheidungsvarianten und erhöhen damit Qualität und Commitment der Entscheidung.
Durch den sich anschließenden Austausch, wird eine hohe Transparenz über relevante Widerstände hergestellt. Basierend auf Widerstandswerten kann eine gezielte Diskussion erfolgen, die entscheidungsrelevante Punkte fokussiert, statt alle Empfindungen der Gruppe ausführlich zu besprechen. Ein achtsamer Umgang mit Bedenken und das Berücksichtigen von Widerständen der Minderheiten ein Kernelement. Durch den Dialog darüber entstehen oft gemeinsame neue Denk– und Lösungsansätze. Ziel ist es dabei, dass das Team nach einer Synergielösung sucht, statt einen schlechten Kompromiss zu schließen, der bei der Methode ohnegleich durch hohe Widerstandswerte “enttarnt” würde.
Der wichtigste Effekt ist, dass sich eine größere Anzahl an Personen als beim Mehrheitsentscheid mit dem Ergebnis identifizieren können: Selten stimmen Menschen mit 10 gegen einen Vorschlag. Daher steigt die Wahrscheinlichkeit, dass jede/r ein Mindestmaß an Zustimmung dem Entscheidungsergebnis entgegenbringt. Dadurch wird eine höhere Kongruenz zwischen Entscheidung und anschließendem Handeln erreicht. Allen wird nachvollziehbar warum es zu diesem Entscheidungsergebnis kam. Bei der weit verbreiteten relativen Mehrheit aus dem ersten Beispiel hätten 5 von 8 Personen sich nicht für Option 2 ausgesprochen. Die Wahrscheinlichkeit, der getroffenen Entscheidung den Rücken zukehren ist damit höher als beim Systemischen Konsensieren.
In jedem Fall setzt das Verfahren Anreize konstruktive Lösungen im Sinne der Gruppe zu finden und lässt eine konfliktlösende Dynamik entstehen, in der kontroverse Argumente kein Tabu sind, sondern vielmehr eine zielgerichtete Diskussionskultur fördern. Das Systemische Konsensieren eignet sich ebenso, um sich als Product Owner, Projektleiter oder Prozessbegleiter in einem vielschichtigen Umfeld eine Meinung vom Team einzuholen, wenn die Ergebnisse und finale Entscheidungskompetenz vorab klar kommuniziert werden.
Was sollte ich beachten?
Auch wenn die Abstimmung selbst sehr schnell geht, sollte Zeit für die Vorbereitung eingeplant werden. Je nach Komplexität des Themas, gibt es vielleicht viele Lösungsansätze zu formulieren oder den Bedarf sich zusätzliche Informationen einzuholen. Dazu gehört auch die Formulierung einer geeigneten Fragestellung, die offen, aber präzise genug sein sollte, damit hilfreiche Lösungen entstehen.
Weiterhin ist es hilfreich einen Moderator einzubinden, der z.B. Scrum Master oder agile Coach ist. Er gibt darauf acht, dass ein Brainstorming oder die Suche nach Alternativlösungen wertungsfrei abläuft. Vor allem der Part, in dem Einwände thematisiert werden, kann für Teams zunächst eine Herausforderung sein. Ein Moderator kann unterstützen, dass sich die Teilnehmenden gegenseitig aussprechen lassen, Redeanteile gerecht verteilt sind oder sich Argumente wiederholen.
In jedem Fall ist das Entscheidungsverfahren mit einer Haltung verbunden, die empathisches Zuhören von allen Teilnehmenden fordert. Besteht bei einigen oder allen Teilnehmenden wiederholt eine “Alles oder nichts-Mentalität”, wie es sich im Beispiel bei Person F sein könnte, ist auch der Methode ein Grenznutzen gesetzt. Der Fokus der Methode auf die Thematisierung von Widerständen kann für einige Konflikte auf Beziehungsebene als Einladung wirken, um Aufmerksamkeit auf die Person, statt die Sachebene zu lenken. Auch diesem Fall ist ein aufmerksames Beobachten und Intervenieren eines des Moderators sinnvoll.
In jedem Fall sollten die ersten Gehversuche mit dieser Entscheidungsmethode von Wohlwollen aller geprägt sein, während die Gruppe sich an die neue Form der Gesprächsführung gewöhnt und ihre Diskussionskultur auf ein neues Level hebt.
Wie starte ich?
Das entscheidest Du. Schon ab heute kannst Du Vorschläge, die anderem Menschen macht mit der Frage “Gibt es Einwände?” kombinieren. Wenn sicher keiner zu Wort meldet und nonverbal nichts darauf hinweist, dass diese Idee auf Ablehnung stößt, hast Du eine schnelle Entscheidung herbeigeführt und abgesichert, dass keiner deswegen am nächsten Tag kündigt.
Die Methode kann analog mit Abstimmungszetteln durchgeführt und auf einem Flipchart dokumentiert werden. Hat jede/r im Team ein Set an Konsensierungs-Karten (jeweils eine Karte mit den bekannten Zahlwerten), können diese, wie Planning Poker, bei einer persönlichen Zusammenkunft oder bei einem Onlinemeeting mit Kamera eingesetzt werden.
Alternativ könnt Ihr eine Excel auf einem gemeinsamen Laufwerk erstellen, in dem jede/r seine Werte einträgt oder das Online-Tool acceptify nutzen. In jedem Fall hast Du immer die Varianten das Abstimmung zu anonymisieren oder offen zu gestalten. Wenn Du mehr erfahren oder mit uns darüber diskutieren möchtest, schreib uns eine Mail und wir melden uns bei Dir! Ansonsten empfehlen wir Dir zur Vertiefung ein Webinar am 27.4. von Josef Maiwald, über den wir das Tool kennengelernt haben oder das nächste Seminar “des Original” SK-Prinzip.