„Wir benötigen zu allererst ein gemeinsames Führungsverständnis. Lasst uns dazu mal einen Workshop machen, dann können wir die Kolleginnen und Kollegen schonmal einnorden.“
Könnt ihr nicht.
Führung ist neben Nachhaltigkeit die wohl heißeste Kartoffel auf dem All-Inclusive Buffet von Führungskräften, Entscheiderinnen und Entscheidern. Und irgendwann landet sie auch auf deinem Teller und du wirst dich damit auseinandersetzen müssen.
Und dann kannst du eigentlich die Tage zählen bis du dich zum ersten Mal sagen hörst „Wir brauchen ein gemeinsames Führungsverständnis!“
Dass das so kommt ist verständlich. Führung ist so vielseitig und unbequem, da kommt jede Form der Komplexitätsreduktion gerade recht! Ein gemeinsames Führungsverständnis würde immerhin dafür sorgen, dass nicht nur alle das Gleiche meinen, wenn sie von Führung sprechen, sondern sie würden auch noch auf die gleiche Art und Weise ihre Mitarbeitenden führen und damit den Blumenstrauß zu enttäuschender Hoffnungen und Erwartungen sofort verkleinern. Jede dieser beiden Ausprägungen für sich genommen ist schon unwahrscheinlich. Beide gleichzeitig zu realisieren: maximaler Zufall. Und die Unwahrscheinlichkeit steigt mit jeder Führungskraft, die zusätzlich in den Leadership-Kreis aufgenommen wird.
“Wenn die individuellen Bilder, Erfahrungen und Erwartungen bei haptischen Dingen schon so weit auseinander gehen, wie soll es bei Begriffen und Konzepten wie Führung oder — auch ein gern genommenes Gemeingut — Werten, anders oder gar besser sein?”
Dass das so unwahrscheinlich ist überrascht nicht mehr, wenn wir darüber nachdenken, wie oft wir bereits bei physisch sicht- und greifbaren Dingen in Situationen kommen, in denen wir etwas komplett anderes sehen, als unsere Gegenüber. Halb-volle und halbleere Gläser sind da nur der Anfang. Ein Terrakottatopf mit einem Olivenbaum ist für den einen der Inbegriff mediterraner Flora und für die andere ein vorsichtiger Schritt zum eigenen Olivenöl. Ein Adventskranz ist hier Sinnbild für sinnliche Weihnachten und dort überflüssiger Kitsch. Wenn die individuellen Bilder, Erfahrungen und Erwartungen bei haptischen Dingen schon so weit auseinander gehen, wie soll es bei Begriffen und Konzepten wie Führung oder — auch ein gern genommenes Gemeingut — Werten, anders oder gar besser sein?
Was also tun?
Zum Glück gibt es ja Unternehmensberatungen die genau wissen, was gute und was schlechte Führung ist. Das lässt man sich dann einfach einmal erklären, dann einigt man sich darauf, dass man nur noch die gute Führung praktiziert (gern gesehen: nur noch Leitplanken geben, Coach sein, keine Ansagen mehr machen), lässt das Ergebnis laminieren und hängt es gut sichtbar irgendwo auf und die Mitarbeitenden laufen freudig nickend daran vorbei. Etwas zu zynisch? Das ist der Alltag und ich erlebe beinahe täglich die Konsequenzen daraus: an der Realität zerbrechende Leadership Nuggets á la Simon Sinek und enttäuschte Erwartungen der Geführten schaukeln sich gegenseitig hoch und nicht mal auf der eigenen Führungsebene ist man sich einig, wie es denn nun eigentlich richtig geht.
Nein, jetzt mal im Ernst. Was also tun?
Das einzige was man richtig machen kann ist, sich kontinuierlich auf verschiedenen Dimensionen des eigenen Führungsverhaltens und ‑anspruchs, auch im Abgleich mit den Erwartungen der eigenen Mitarbeitenden, gewahr zu werden. Um hier nicht den Überblick zu verlieren, ist es hilfreich, in verschiedene Ebenen der Führung[1] zu unterscheiden:
Führung der eigenen Person.
Führung einer anderen Person (im 1:1).
Führung von Teams.
Führung einer Organisation (oder eines Bereiches).
Eine erste, harmlose, Annäherung an die Auseinandersetzung mit sich selbst ist die persönliche Einordnung auf dem Leadership Radar(Anmerkung: Es sind mittlerweile sechs Hüte, wir haben Coach und Mentor getrennt ins Rennen geschickt. Für begleitende Fragen zum Radar, schreibt uns einfach eine Mail).
Es ist wichtig zu verstehen, dass es hier nicht darum geht, dass ein Hut besser ist als der andere. Es geht darum herauszufinden, welchen Hut ich als Führungskraft wann am ehesten aufsetze und woran andere das erkennen können. Und woran ich erkennen kann, das andere das erkannt haben. Es geht also um das Management eigener und fremder Zuschreibungen. Der Leadership Radar bietet eine einfache Möglichkeit der Selbstverortung und die Grundlage zu entscheiden, in welche Richtung ich mich weiterentwickeln möchte.
Im Kern der Selbstführung geht es, natürlich, um Selbstreflexion. Und es ist vollkommen klar, dass Führung ohne Selbstreflexion der vermeidlich führenden Person ein Zufallsprodukt bleiben muss. Ich schreibe vermeidlich weil Führung keine hierarchische Variable ist deren Wert mit jeder Führungsebene automatisch steigt. Führung ist eine Funktion aus Reflexion, Entscheidung und Umsetzung. Und diese Führungsschleife[2] kann ganz unabhängig von Hierarchie durchlaufen werden. Wenn eine Führungskraft beispielsweise qua Position eine Entscheidung trifft, diese jedoch nicht umgesetzt wird (aus welchen Gründen auch immer) muss zunächst davon ausgegangen werden, dass hier keine Führung stattfand.
Um mich jetzt nicht in einem Abstract oder einer Rezension zu verlaufen, verweise ich gerne nochmal explizit auf das Buch Wirksam führen mit Systemtheorie von Torsten Groth und Timm Richter, sowie das Dschungelbuch der Führung von Ruth Seliger. Beiden Büchern gemein ist eine für mich sehr angenehme Distanzierung von der weit verbreiteten Idee, es gäbe einen perfekten Führungsstil. Gleichzeitig werden hilfreiche Anhaltspunkte dafür geliefert, wie Führung wirksam werden kann.
Und wo stehen wir jetzt bei unserem gemeinsamen Führungsverständnis?
“Wer heute damit anfängt sich mit Führung zu beschäftigen, sollte im ersten Schritt eine Art Alarmanlage im Gehirn installieren, die sofort anschlägt, wenn irgendwo steht „These 5 things seperate a good leader from a great one! ”
Ein gemeinsames Führungsverständnis im Sinne einer Entscheidung “So geht Führung hier richtig!” bleibt als Wunsch verständlich doch als Ziel, das über Trainings zu erreichen ist, unrealistisch und unbrauchbar. Ein kleiner Einstieg in das schwierige Verhältnis von Konsens und Verständnis findet ihr unter anderem in diesem Beitrag von Florian Zapp.
Wer heute damit anfängt sich mit Führung zu beschäftigen, sollte im ersten Schritt eine Art Alarmanlage im Gehirn installieren, die sofort anschlägt, wenn irgendwo steht „These 5 things seperate a good leader from a great one! Oder „Use this method to become the best leader you can be!“ Oder, meine absoluten Favoriten: sämtliche Texte die erklären, dass Agile Leadership das einzig Wahre ist! Sie sollten als Inspiration gelesen werden, jedoch nie ohne Einbeziehung des Kontextes in dem oder für den sie geschrieben wurden.
Arbeit mit und an Führung ist Arbeit an Kultur – beides lässt sich nicht per Dekret entscheiden.
Im zweiten Schritt lohnt es sich, auf den Unterschied von Landschaft und Landkarte – also den Adventskranz und dessen Interpretationen durch die Betrachter:innen — zu schauen und sich zu vergegenwärtigen, dass es deutlich mehr wert ist zu verstehen, dass mein Gegenüber den Kranz kitschig findet als zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass er oder sie nur noch ein paar Kerzen bräuchte und schon sei die Vorweihnachtszeit in trockenen Tüchern.
Was hier bewusst etwas flapsig formuliert wird hat in der realen Welt von Führenden und Geführten eine große Bedeutung: Arbeit mit und an Führung ist Arbeit an Kultur – beides lässt sich nicht per Dekret entscheiden. Was sich sehr wohl entscheiden lässt, im kleinen wie im großen Rahmen (also beispielsweise Selbst- und Organisationsführung) ist, ob überhaupt und wenn ja, welche Strukturen für Selbstbeobachtung zur Verfügung gestellt werden.
Wenn in einer Runde von Führungskräften gemeinsam beschlossen wird, dass solche Strukturen für die Organisation überlebensnotwendig sind, so ist das schon ein kleiner und wichtiger Schritt in Richtung eines gemeinsamen Verständnisses davon, was Führung eigentlich können muss.
[1] Groth, Torsten & Richter, Timm. 2023. Wirksam führen mit Systemtheorie. Carl Auer Verlag
[2] s.o.